Mittwoch, 12. Dezember 2007

Väterchen Franz

FJDWie komme ich nur plötzlich auf ihn? Jahrzehnte lang hatte ich ihn vergessen, nein falsch, nicht vergessen, eher nicht mehr an ihn gedacht, obwohl er mir immer präsent war. „ Ja, wenn der Senator erzählt!“ ,geradezu reflexartig fällt mir dieser Satz ein, wenn ich wieder mal so eine Aufschneidergeschichte vom ehrlich erworbenen Reichtum höre und weiter: „Klar doch, von den als armer Leute Bub beim Milchholen erwirtschafteten Pfennigen hast Du das erste Stahlwerk aufs Wackelsteiner Ländchen gestellt. Großartig!“


Und dann denke ich wieder an die Kinder aus der Oberstadt, die nicht mit den Schmuddelkindern, denen mit dem Rattenpelz am Kragen, spielen durften und dann der unvergessliche „Deutsche Sonntag“ , wo Familienleittiere, „Hütchen, Schühchen, Täschchen passend, ihre Männer unterfassend vom Kirchgang dann nach Hause ziehn, damit die nicht in Kneipen fliehn“. Dieser Titel war monatelang der Spitzenreiter in den SWR3- Chards, die damals noch Hitparade hieß – unvorstellbar heute. So etwa 1968 durfte Franz Josef Degenhardt seine Lieder sogar in einer eigenen TV-Show vortragen, zwar erst nach 22 Uhr , aber immerhin. Degenhardts Lieder trafen bei mir durch ihre bildhaft-poetische Beschreibung der deutschen Spießigkeit und kämpferische Aufmüpfigkeit genau den Kern meiner eigenen Befindlichkeit in jenen Jahren der scheinbaren politischen und gesellschaftlichen Veränderung.

Degenhardt ist Rechtsanwalt und vertrat zu jener Zeit viele APO- Mitglieder in den einschlägigen Prozessen, z.B. wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt oder sonstiger Vorwürfe im Zusammenhang mit den Protestbewegungen der 68er. Das erfuhr man von Zeit zu Zeit noch aus der Presse. Degenhardt war SPD-Mitglied, trat aber als Liedermacher regelmäßig bei den von der DKP veranstalteten UZ-Pressefesten auf und rief anlässlich der Landtagswahl 1971 in Schleswig-Holstein auf, die DKP zu wählen, worauf ihn die SPD aus der Partei ausschloss. Dann wurden Gerüchte lanciert, Degenhardt stände in Beziehung zur Baader-Meinhoff-Gruppe (die sprachreglerische Umbenennung in BM-Bande erfolgte erst später) und dann verschwand Degenhardt vollständig aus den Medien und mit der Zeit leider auch aus meinem Bewusstsein.

Jetzt ist er für mich wieder da. Wie ich plötzlich daraufkomme? Keine Ahnung, aber beim Lesen seiner Texte fühle ich mich mit einem mal richtig wohl.


Deutscher Sonntag

von Franz Josef Degenhardt

Sonntags in der kleinen Stadt,
wenn die Spinne Langeweile
Fäden spinnt und ohne Eile
giftig-grau die Wand hochkriecht,
wenn's blank und frisch gebadet riecht,
dann bringt mich keiner auf die Straße,
und aus Angst und Ärger lasse
ich mein rotes Barthaar stehn,
lass den Tag vorübergehn,
hock am Fenster, lese meine
Zeitung, decke Bein mit Beine,
seh, hör und rieche nebenbei
das ganze Sonntagseinerlei.
Tada-da-da-dam...

Da treten sie zum Kirchgang an,
Familienleittiere voran,
Hütchen, Schühchen, Täschchen passend,
ihre Männer unterfassend,
die sie heimlich vorwärts schieben,
weil die gern zu Hause blieben.
Und dann kommen sie zurück
mit dem gleichen bösen Blick,
Hütchen, Schühchen, Täschchen passend,
ihre Männer unterfassend,
die sie heimlich heimwärts ziehn,
daß sie nicht in Kneipen fliehn.
Tada-da-da-dam...

Wenn die Bratendüfte wehen,
Jungfrauen den Kaplan umstehen,
der so nette Witzchen macht,
und wenn es dann so harmlos lacht,
wenn auf allen Fensterbänken
Pudding dampft, und aus den Schenken
schallt das Lied vom Wiesengrund
und daß am Bach ein Birklein stund,
alle Glocken läuten mit,
die ganze Stadt kriegt Appetit,
das ist dann genau die Zeit,
da frier ich vor Gemütlichkeit.
Tada-da-da-dam...

Da hockt die ganze Stadt und mampft,
daß Bratenschweiß aus Fenstern dampft.
Durch die fette Stille dringen Gaumenschnalzen,
Schüsselklingen, Messer, die auf Knochen stoßen,
und das Blubbern dicker Soßen.
Hat nicht irgendwas geschrien?
Jetzt nicht aus dem Fenster sehn,
wo auf Hausvorgärtenmauern
ausgefranste Krähen lauern.
Was nur da geschrien hat?
Ich werd so entsetzlich satt.
Tada-da-da-dam...

Wenn Zigarrenwolken schweben,
aufgeblähte Nüstern beben,
aus Musiktruhn Donauwellen
plätschern, über Mägen quellen,
hat die Luft sich angestaut,
die ganze Stadt hockt und verdaut.
Woher kam der laute Knall?
Brach ein Flugzeug durch den Schall?
Oder ob mit 'm Mal die Stadt
ihr Bäuerchen gelassen hat?
Die Luft riecht süß und säuerlich.
Ich glaube, ich erbreche mich,
Tada-da-da-dam...

Dann geht's zu den Schlachtfeldstätten,
um im Geiste mitzutreten,
mitzuschießen, mitzustechen,
sich für wochentags zu rächen,
um im Chor Worte zu röhren,
die beim Gottesdienst nur stören.
Schinkenspeckgesichter lachen
treuherzig, weil Knochen krachen
werden. Ich verstopf die Ohren
meiner Kinder. Traumverloren
hocken auf den Stadtparkbänken
Greise, die an Sedan denken.
Tada-da-da-dam...

Dann ist die Spaziergangstunde,
durch die Stadt, zweimal die Runde.
Hüte ziehen, spärlich nicken,
wenn ein Chef kommt, tiefer bücken.
Achtung, daß die Sahneballen
dann nicht in den Rinnstein rollen.
Kinder baumeln, ziehen Hände,
man hat ihnen bunte, fremde
Fliegen - Beine ausgefetzt -
sorgsam an den Hals gesetzt,
daß sie die Kinder beißen solln,
wenn sie zum Bahndamm fliehen wolln.
Tada-da-da-dam..,.

Wenn zur Ruh die Glocken läuten,
Kneipen nur ihr Licht vergeuden,
wird's in Couchecken beschaulich.
Das ist dann die Zeit, da trau ich
mich hinaus, um nachzusehen,
ob die Sterne richtig stehen,
Abendstille überall. Bloß
manchmal Lachen wie ein Windstoß
über ein Mattscheibenspäßchen.
Jeder schlürft noch rasch ein Gläschen
und stöhnt über seinen Bauch
und unsern kranken Nachbarn auch.
Sonntags in der kleinen Stadt,
sonntags in der deutschen Stadt.

Tief im Süden

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