Als Germanistikstudent ist mir Kleist durchaus ein Begriff und auch den Kohlhaas habe ich gelesen, allerdings halte ich es für wenig bedenklich, wenn ein gutes Stück Literatur auf dem Weg zum Abschluss nicht gestreift wurde. Viel schöner ist doch die Erkenntnis, das nachholen zu können, selbst lange nachdem das Studium beendet wurde.
Die Literatur ist mittlerweile ein Acker, den man allein schon lange nicht mehr bestellt, selbst den belesensten unter den Literaturwissenschaftlern ist längst nicht mehr alles ein Begriff. Außerdem gehört zur Germanistik auch die Sprachwissenschaft, die wiederum ein ganz anderes Feld beackert.
Der Ball vom Hochmut der Wissenschaft ( Stichwort Elfenbeinturm ) wird doch hier nur vom Kenner ( oder etwa ebenfalls Literaturwissenschaftler? ) zurückgespielt. Das ist kaum der Aufregung wert.
Es gibt ja auch noch den Begriff der Allgemeinbildung und da gehören wenigstens rudimentäre Kenntnisse der Klassiker doch wohl dazu – glaubte ich bisher jedenfalls.
„Kohlhaas“ war mal Schullektüre und die Beantwortung der klassischen Frage, was denn der Dichter mit diesem Werk sagen wolle, eine jedem Gymnasiasten zugemutete Aufgabenstellung. Was bitte soll man vom Urteil eines „Literaturkritikers“ halten, dem offensichtlich die Beurteilungsbasis, die Vergleichsmöglichkeit, fehlt ?
Von einem promovierten Germanisten kann und muss man mehr erwarten dürfen als von einem Lehramtskandidaten für das Fach Deutsch, wobei dieser wahrscheinlich sogar mehr über Kleist weiß als Frau Bünger. Wenn man Kleist "nachholen" muss, dann ist das so, als wenn man nach Abschluss eines Mathematikstudiums zugibt, die Mengenlehre nicht verstanden zu haben. Wie will diese Frau denn Literatur beurteilen, wenn sie nicht einmal mit dem klassischen literarhistorischen Kanon vertraut ist? Wir reden hier ja nicht über einen vergessenen Barocklyriker oder ein verschollenes Werk, sondern über einen der bedeutendsten Dichter und eine der herausragendsten Erzählungen deutscher Sprache.
Völlig unbegreiflich ist mir jedoch, wie diese sogenannte Literaturkritikerin mit einem einfältigen Lächeln im Gesicht und ohne Anzeichen von Peinlichkeit auch noch zugbit, nie zuvor Kleist gelesen zu haben. "Ignorance is bliss."
Ich verstehe den Rummel nicht. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich bereits auf Bachelor studiere und sowohl um den literaturhistorischen Kanon einerseits als um das sprachwissenschaftliche Mindestgerüst nicht herum komme. Bologna sei Dank hat also jeder schon einmal von Kolhaas gehört an unserer Uni ( ich glaube, das kann ich so sagen ), dafür aber die wenigsten von selbst ein wenig weiter gelesen, weil sie dafür keine Zeit haben. In Zukunft sind also wieder treffsichere Kommentare in Funk und Fernsehen zu vernehmen aber eben nur bei Literatur von den den ganz Großen.
Was ich damit sagen will, wieso darf sich nicht jemand auf Themen spezialisieren und deshalb anderes vernachlässigen? Kleist ist nicht die Grundlage der Literatur, sondern nur ein ziemlich guter Vertreter, Lesen und Schreiben lernt man auch ohne ihn und anscheinend kann man sogar ohne Kleist promovieren. Und hier die Naturwissenschaften ins Feld zu führen und einer Geisteswissenschaft gegenüberzustellen ist ja wohl ein ziemlich schwacher Vergleich, aber vielleicht stülpen wir der Germanistik auch noch ein System über ( da bekommt Kolhaas dann einen besonderen Platz im anschaulichen Baumdiagramm der Literaturgeschichte ) und machen sie zur Naturwissenschaft.
Mathematik ist zwar keine Naturwissenschaft, aber ein Physiker, der nie etwas von Newton gehört hätte, wäre genauso peinlich (aber gottseidank unmöglich). Wenn Goethe, Kleist, Fontane und einige andere Autoren nicht zur "Grundlage" der deutschsprachigen Erzählliteratur gehören, wer dann?
Es geht hier auch nicht um schematisierende Baumdiagramme, sondern um die leidenschaftliche Neugier auf Literatur, die ich von einem Promovenden der Germanistik (und erst recht von einem promovierten Literaturkritiker) erwarte.
Wer sagt, dass Kleist "nicht die Grundlage der Literatur" sei, sollte vielleicht besser Häkeln gehen, oder?
Im übrigen mag das ja durchaus gängige Praxis sein: Literaturstudium unter Vermeidung von Kleist oder gar Goethe. Genau wie die Grundrechenarten nicht mehr notwendig sin, seit es Taschenrechner gibt. Sich dann aber als "Literaturkritikerin" zu gerieren und mit ihren dümmlich-lächerlichen Kommentaren Urteile zu sprechen, ist schon ziemlich dreist.
Früher schämte man sich seiner Unbildung. Heute kann man damit im Fernsehen auftreten.
Phorkyas - 10. Sep, 12:59
Lieber Herr Keuschnig, war das nicht etwas scharf? Ich verstehe, dass Sie keine Qualitätstandards verwässern lassen wollen, weil ein Dammbruch sich befürchten ließe. Allerdings weil hier Newton angesprochen wurde: als Physiker lernt man ihn nicht kennen, nur die heutige Formulierung seiner Theorien (über die Historie lernt man im Physikstudium so gut wie nichts - Rechenfertigkeiten, Modelle, Theorien, aber nur in der Form wie sie die aktuelle Lehrbuchtradition darstellt. - Newtons Beweis für die Planetenbewegung wäre heute kaum noch lesbar, weil er ihn der damaligen Zeit entsprechend geometrisch durchführte.) Die Naturwissenschaften sind, glaube ich, nicht vergleichbar, weil sie in ihren Theoriegebäuden einen einheitlichen, stringenten Aufbau anstreben. Wer die Newtonschen Axiome nicht versteht, wie will der eine Mechanikaufgabe lösen (auch da geht freilich und kommt auch vor)?
Auch wenn es in der Literaturwissenschaft genauso Theoriebildung gibt, so glaube ich, ist dort das Bewusstsein für das Fragmentarische von Bildung (oder hier vielleicht noch Wissen) höher. Da würde ich Frau Shhhhh doch beipflichten.. - Persönlich habe ich große Lücken, Kleist gehört dazu, Büchner auch, so schmerzlich sie sind, bleibt eben nicht so viel Lesezeit (wenn man soviel in Blogs kommentiert) und mit der will hausgehalten sein. Wäre es so nicht besser, das etwas lockerer zu sehen, weil einfach nicht mehr alles gelesen werden kann, und Bildung doch auch nicht das Abhaken des Kanons sein sollte (Kanon, da sehe ich schon einen MRR heranschleichen... und das Fallbeillurteil über Frau Traudl erinnert mich doch etwas an ihn - ob sie es nun verdient oder nicht..) - Wie Sie so schön schrieben, Stefan Schmalhaus, es geht um leidenschaftliche Neugier, dieser folgend sollte man sich hineinbohren (aber könnte es nicht vorkommen, dass man dabei auch an Kleist vorbeigeht?)
PS. Leider habe ich die Äußerung von Frau Traudl nicht gefunden - denn es wäre hier wohl auch wichtig, w i e sie geäußert wurde. Daran entzündetet sich der Unmut ja anscheinend hauptsäclich.
Lieber Phorkyas, ich versichere Ihnen, dass ich Frau Büngers Aussage dem Sinn nach richtig und, soweit ich mich erinnere, auch wortwörtlich wiedergegeben habe. Entstellt habe ich ihn ganz sicher nicht. Wäre auch nur der geringste Zweifel bei mir aufgekommen, dass Frau Büngers Aussage missverständlich gewesen wäre, dass ich falsche Schlüsse gezogen hätte, ich hätte kein Wort darüber verloren, weil mein Posting ja dann gar keinen Sinn ergäbe und nur verleumderisch und bösartig wäre.
Man muss Kleist nicht gelesen haben, viele Menschen haben das nicht, viele Menschen haben auch Goethe und Schiller nicht gelesen, lasen nie etwas von Grass oder Böll - kein Problem . Wenn das aber für eine promovierte Germanistin normal ist und die sich auch noch als Literaturkritikerin geriert, dann bin ich doch einigermaßen erstaunt.
Außerdem halte ich es für schwierig, an Kleist vorbei zu kommen. Michael Kohlhaas ist ja nicht nur eine gutgeschriebene Geschichte, sondern an ihr wurde Generationen von Schülern exemplarisch der Zwiespalt zwischen Recht und Gerechtigkeit oder die Begründung des Gewaltmonopols erklärt. Nie, und sei’s nur als Film, den Dorfrichter Adam im zerbrochenen Krug kennen gelernt, nie das Käthchen von Heilbronn oder den Prinz von Homburg im Theater gesehen zu haben, ist für eine promovierte Germanistin schon eine bemerkenswerte Leistung. Wer soll denn so eine „Literaturkritikerin“ ernstnehmen?
Phorkyas - 10. Sep, 23:06
Lieber blackconti, Ihrer Darstellung misstraue ich nicht, nur falls ich ein Urteil sprechen hätte wollen, nach dem die „Literaturkritikerin“ aus den heiligen Hallen der Literatur gejagt gehörte, dann hätte ich mir selbst ein Bild machen wollen - dann käme es auf dem Kontext ja doch an und darauf, wie sie sich sonst so gibt.
- Sie und Herr Keuschnig pflegen einen emphatischen Begriff von Literatur. Auch ich bin da nicht ohne Leidenschaft, aber wie in der Philosophie Laie. Die ließe sich zum Vergleich vielleicht gut heranziehen. Es ist einfach unmöglich alle Philosophen selbst gelesen zu haben und dann muss man sich ein grobes Überblickswissen verschaffen und auch auf Urteile aus zweiter Hand vertrauen. (Kann aber sein, dass auch das oft nicht vorhanden ist, ich möchte mich da jetzt auch nicht ausschließen) - Nur, "Leidenschaft" (ich fürchte schon das Wort sei kontaminiert) geht es nicht um diese, und ob man ihr gerade diese absprechen müsse, wenn sie offenbar wenig Interesse für eigenes Fach zu haben scheint?
Da war ich mir eben nicht sicher, ob man das schon sagen könne... Wirklich erschütternd fand ich aber das hier: http://www.swr.de/literatur-im-foyer/-/id=122518/did=8542846/pv=video/nid=122518/gxr2jj/index.html
- dies hatte Herr Keuschnig auf seinem Blog verlinkt. Darüber könnte ich mich meinerseits echauffierren, aber es bleibt mir fast die Spucke weg. Argh. Die würden einem ja auch noch das letzte Jota Verstand aus der Birne quasseln.
Lieber Phorkyas, die Aufzeichnung der Sendung ist hier herunterzuladen. Dauert aber etwas (ist eine Videodatei).
Ich sehe die Sache wie blackconti. Man muss als "Normalsterblicher" nicht die Literaturhelden gelesen haben. Aber als Literaturwissenschaftlerin? Ich weiss nicht. Kommt mir vor wie ein Zweisternekoch, der keinen Salat zubereiten kann.
Phorkyas - 17. Sep, 21:24
Vielen Dank für den Link! Aber danach hat sich meine Meinung eher bestärkt: Dass ich Frau Bünger anhand dieser wenigen "Daten" die Bildung oder ihre eigene Bildungsbegeisterung nicht absprechen kann (schon gar nicht den Geist oder die Eloquenz). Zwar verhaspelt sie sich manchmal mit den (Fremd-)wörtern, aber ich möchte nicht wissen, wie dumm ich selbst vor einer Fernsehkamera wegkäme. Für die Begeisterung finde ich es ohnehin zuträglicher, dass man sich selbst Helden wählt und nicht dass man einen Kanon, wie eine Checkliste abarbeitet. Zweiteres würde ich nicht als Bildung zählen und bereitete wohl auch nicht sehr viel Freude. (In diese Richtung wollte ich schon vorher zielen.) Es gibt einfach zu viel, es ist schon einigermaßen unmöglich für die deutsche Literatur einigermaßen lückenlos da zu stehen: Man könnte immer eines herausgreifen und rufen: Der Kaiser ist nackt! (Oft denke ich das auch in meinem eigenen Gebiet. Leider. - Es ist wohl einfach so, dass unsere Bildung Fragment bleibt und offen - Natürlich könnte ich auch sagen: Ah, wer aber "Meister und Margarite" oder "Verbrechen oder Strafe" nicht gelesen hat, mit dem red ich erst gar nicht, aber dann könnte der erwiedern: "Krieg und Frieden" oder Pynchon und dann beißt mich mein schlechtes Gewissen, weil ich um all diese umherliegenden, ungelesen Schinken noch weiß..)
PS. Vielleicht sollten Regener und Radisch zusammen eine Sendung machen. Das war schon schön, wie uneins, die beiden teilweise waren. Das wäre das nötige Salz in der Suppe (das dieser Sendung doch etwas mangelte).
Lieber Phorkyas, auch ich beurteile Menschen nicht nach dem Grad ihrer Belesenheit. Für die fachliche Beurteilung eines Experten - und eine in einer Literatursendung auftretende Kritikerin fällt ja wohl in diese Kategorie - gelten jedoch andere Kriterien.
Im übrigen waren Frau Traudls Bemerkungen zum "Michael Kohlhaas" nicht besonders geistreich. Oder haben Sie Frau Traudls exaltiert vorgetragene symbolische Ausdeutung der Todesumstände von Kohlhaasens Frau verstanden? Das war nichts als geschwätzige Paraphrase.
Lieber Stefan Schmalhaus, natürlich sollte ein Kritiker "belesen" sein, aber darf er dabei nicht seiner eigenen Nase nachgehen, bzw. wäre es nicht etwas einfach einen Kritiker auszuschließen weil er Buch XYZ nicht gelesen hat? (Dann ließe sich im Zweifelsfall jeder ausschließen, wie ich oben schon meinte.) Wäre es nicht angebrachter Inhalt und Ton von Frau Traudls Äußerungen zu kritisieren, so man sie denn kritisieren möchte? Was für ein Verständnis von Literatur spricht aus ihren Beiträgen etc.?
Oder fast in dem Sinne wie sie fragen: Ist es vielleicht sogar ein Überkompensation, dass sie den Kleist so exaltiert lobt und gleich das Gesamtwerk bestellt (schämt sie sich doch bisschen)? (Das wäre nun schon psychologisierend - leider ist es nun schon länger her dass ich das Video gesehen habe, so dass ich mich nicht mehr genau erinnere: Stimmte sie nicht Frau Radisch zu, was den Roman anbelangte, der sich in diesen Sumpflandschaften abspielte? Da fand ich deren beider Begründung nämlich äußerst schwach: Sie wollten wohl die Klischees anprangern, produzierten meiner Meinung nach aber selbst nur solche. Diese "Schreibschulfhaftigkeit", was ist das für ein Vorwurf, was soll der wirklich bedeuten - letztlich doch nur, dass es irgendwie schlecht ist, aber man selbst nicht einmal genau benennen kann warum? - Als Plastikprosa bezeichnete Frau Radisch das Buch noch und als "künstlich". Gerade diese letzte Kategorie halte ich für die missglückteste. (1) Wer definiert bitte was "natürlich" und was "künstlich" ist? Die "Natur" oder Sprache selbst? Oder doch nur mein Empfinden? (2) Was soll denn bitte Kunst und Literatur anderes sein als "künstlich"? - Dies betrifft jetzt aber mehr Frau Radisch.)
Wie gesagt, ich möchte Frau Traudl gar nicht zu sehr in Schutz nehmen, aber hat XYZ nicht gelesen ist mir für eine Exkommunikation (zunächst) einfach zu dünn (aus dem Gespräch geht ja nicht hervor, ob "nicht gelesen" auch heißt, dass sie ihn nicht in der Literaturgeschichte verorten kann und ihn nicht zumindest aus Sekundärwerken schon kennt).
Ich will diese Diskussion nicht künstlich am Leben erhalten, mochte Dir aber in einem Punkt: widersprechen: Kleists Erzählungen halte ich für so epochemachend, stilprägend und literarisch bedeutsam, dass sie nicht in die von Dir so genannte Kategorie "Buch XYZ" fallen. Natürlich kann man darüber streiten, welche Werke zum literarischen Kanon zählen sollten oder nicht, Kleists Erzählungen gehören für mich aber unstrittig dazu. Ich will niemandem vorschreiben, welche Bücher er zu lesen hat, aber von einer promovierten Literaturwissenschaftlerin erwarte ich, dass sie - bei aller notwendigen Spezialisierung - die Klassiker ihres Faches aus erster Hand (und nicht nur aus Kindlers Literatur-Lexikon) kennt.
@Stefan Schmalhaus: Das möchte ich auch nicht. Gerade auch weil wir uns vermutlich nur einigen können, uneins zu sein? (Aber ich finde die Diskussion nicht unwichtig, weil sie für mich daran kratzt, was Bildung ist.)
welche Werke zum literarischen Kanon zählen sollten oder nicht, Kleists Erzählungen gehören für mich aber unstrittig dazu
Da stimme ich zu.
Warum ich mir bei: aber von einer promovierten Literaturwissenschaftlerin erwarte ich, dass sie - bei aller notwendigen Spezialisierung - die Klassiker ihres Faches aus erster Hand kennt
nicht so sicher bin, ob ich da zustimmen kann, habe ich versucht darzulegen.
Vielleicht ein anderer Versuch: Mein Mitbewohner studiert Literaturwissenschaften und Philosophie. Ich sehe ihn fast nie ohne Buch und er hat mal überschlagen, dass er für jede Hausarbeit (15-30 Seiten) ungefähr 1000 Seiten liest. (Was das Curriculum erfordert ist aber wiederum nur ein Bruchteil dessen, was er aus Interesse liest.) Der hat Kleist gelesen (und war so begeistert, dass ich mich auch immer noch schäme, auf seine Empfehlung noch nicht zurückgekommen zu sein). Aber z.B. von Goethe hat er kaum was gelesen... oder von Alfred Andersch.. oder der Bereich Lyrik ist auch recht weiß, weil's ihn eben nicht so packt. Deswegen käme ich aber doch nicht auf die Idee seinen Bachelor wieder einzufordern.
...Vielleicht reagiere ich auch nur unterschwellig etwas allergisch auf "Kanon" und das Bildungsphilisterhafte, was für mich da mitschwingt - ähnlich der Verranglistung und Vermessung der Literatur durch Betonköpfe wie MRR. Bildung und Literatur sollte eben mehr sein als das. Was, das muss wohl jeder selbst herausfinden. Da Sie Frau Traudls Unkenntnis jedoch nicht dem Lehrplan anlasten, scheint's als wäre hier ihr mangelndes persönliches Interesse/Leidenschaft für Literatur und Bildung angegriffen... und das sehe ich so einfach nicht.
(Tut mir leid, dass ich so hartnäckig und wortreich bleibe - aber ich würde gern erfahren, an welchem Punkt genau wir uneins sind.)
Die Literatur ist mittlerweile ein Acker, den man allein schon lange nicht mehr bestellt, selbst den belesensten unter den Literaturwissenschaftlern ist längst nicht mehr alles ein Begriff. Außerdem gehört zur Germanistik auch die Sprachwissenschaft, die wiederum ein ganz anderes Feld beackert.
Der Ball vom Hochmut der Wissenschaft ( Stichwort Elfenbeinturm ) wird doch hier nur vom Kenner ( oder etwa ebenfalls Literaturwissenschaftler? ) zurückgespielt. Das ist kaum der Aufregung wert.
„Kohlhaas“ war mal Schullektüre und die Beantwortung der klassischen Frage, was denn der Dichter mit diesem Werk sagen wolle, eine jedem Gymnasiasten zugemutete Aufgabenstellung. Was bitte soll man vom Urteil eines „Literaturkritikers“ halten, dem offensichtlich die Beurteilungsbasis, die Vergleichsmöglichkeit, fehlt ?
Völlig unbegreiflich ist mir jedoch, wie diese sogenannte Literaturkritikerin mit einem einfältigen Lächeln im Gesicht und ohne Anzeichen von Peinlichkeit auch noch zugbit, nie zuvor Kleist gelesen zu haben. "Ignorance is bliss."
Was ich damit sagen will, wieso darf sich nicht jemand auf Themen spezialisieren und deshalb anderes vernachlässigen? Kleist ist nicht die Grundlage der Literatur, sondern nur ein ziemlich guter Vertreter, Lesen und Schreiben lernt man auch ohne ihn und anscheinend kann man sogar ohne Kleist promovieren. Und hier die Naturwissenschaften ins Feld zu führen und einer Geisteswissenschaft gegenüberzustellen ist ja wohl ein ziemlich schwacher Vergleich, aber vielleicht stülpen wir der Germanistik auch noch ein System über ( da bekommt Kolhaas dann einen besonderen Platz im anschaulichen Baumdiagramm der Literaturgeschichte ) und machen sie zur Naturwissenschaft.
Es geht hier auch nicht um schematisierende Baumdiagramme, sondern um die leidenschaftliche Neugier auf Literatur, die ich von einem Promovenden der Germanistik (und erst recht von einem promovierten Literaturkritiker) erwarte.
Im übrigen mag das ja durchaus gängige Praxis sein: Literaturstudium unter Vermeidung von Kleist oder gar Goethe. Genau wie die Grundrechenarten nicht mehr notwendig sin, seit es Taschenrechner gibt. Sich dann aber als "Literaturkritikerin" zu gerieren und mit ihren dümmlich-lächerlichen Kommentaren Urteile zu sprechen, ist schon ziemlich dreist.
Früher schämte man sich seiner Unbildung. Heute kann man damit im Fernsehen auftreten.
Auch wenn es in der Literaturwissenschaft genauso Theoriebildung gibt, so glaube ich, ist dort das Bewusstsein für das Fragmentarische von Bildung (oder hier vielleicht noch Wissen) höher. Da würde ich Frau Shhhhh doch beipflichten.. - Persönlich habe ich große Lücken, Kleist gehört dazu, Büchner auch, so schmerzlich sie sind, bleibt eben nicht so viel Lesezeit (wenn man soviel in Blogs kommentiert) und mit der will hausgehalten sein. Wäre es so nicht besser, das etwas lockerer zu sehen, weil einfach nicht mehr alles gelesen werden kann, und Bildung doch auch nicht das Abhaken des Kanons sein sollte (Kanon, da sehe ich schon einen MRR heranschleichen... und das Fallbeillurteil über Frau Traudl erinnert mich doch etwas an ihn - ob sie es nun verdient oder nicht..) - Wie Sie so schön schrieben, Stefan Schmalhaus, es geht um leidenschaftliche Neugier, dieser folgend sollte man sich hineinbohren (aber könnte es nicht vorkommen, dass man dabei auch an Kleist vorbeigeht?)
PS. Leider habe ich die Äußerung von Frau Traudl nicht gefunden - denn es wäre hier wohl auch wichtig, w i e sie geäußert wurde. Daran entzündetet sich der Unmut ja anscheinend hauptsäclich.
Man muss Kleist nicht gelesen haben, viele Menschen haben das nicht, viele Menschen haben auch Goethe und Schiller nicht gelesen, lasen nie etwas von Grass oder Böll - kein Problem . Wenn das aber für eine promovierte Germanistin normal ist und die sich auch noch als Literaturkritikerin geriert, dann bin ich doch einigermaßen erstaunt.
Außerdem halte ich es für schwierig, an Kleist vorbei zu kommen. Michael Kohlhaas ist ja nicht nur eine gutgeschriebene Geschichte, sondern an ihr wurde Generationen von Schülern exemplarisch der Zwiespalt zwischen Recht und Gerechtigkeit oder die Begründung des Gewaltmonopols erklärt. Nie, und sei’s nur als Film, den Dorfrichter Adam im zerbrochenen Krug kennen gelernt, nie das Käthchen von Heilbronn oder den Prinz von Homburg im Theater gesehen zu haben, ist für eine promovierte Germanistin schon eine bemerkenswerte Leistung. Wer soll denn so eine „Literaturkritikerin“ ernstnehmen?
- Sie und Herr Keuschnig pflegen einen emphatischen Begriff von Literatur. Auch ich bin da nicht ohne Leidenschaft, aber wie in der Philosophie Laie. Die ließe sich zum Vergleich vielleicht gut heranziehen. Es ist einfach unmöglich alle Philosophen selbst gelesen zu haben und dann muss man sich ein grobes Überblickswissen verschaffen und auch auf Urteile aus zweiter Hand vertrauen. (Kann aber sein, dass auch das oft nicht vorhanden ist, ich möchte mich da jetzt auch nicht ausschließen) - Nur, "Leidenschaft" (ich fürchte schon das Wort sei kontaminiert) geht es nicht um diese, und ob man ihr gerade diese absprechen müsse, wenn sie offenbar wenig Interesse für eigenes Fach zu haben scheint?
Da war ich mir eben nicht sicher, ob man das schon sagen könne... Wirklich erschütternd fand ich aber das hier: http://www.swr.de/literatur-im-foyer/-/id=122518/did=8542846/pv=video/nid=122518/gxr2jj/index.html
- dies hatte Herr Keuschnig auf seinem Blog verlinkt. Darüber könnte ich mich meinerseits echauffierren, aber es bleibt mir fast die Spucke weg. Argh. Die würden einem ja auch noch das letzte Jota Verstand aus der Birne quasseln.
Ich sehe die Sache wie blackconti. Man muss als "Normalsterblicher" nicht die Literaturhelden gelesen haben. Aber als Literaturwissenschaftlerin? Ich weiss nicht. Kommt mir vor wie ein Zweisternekoch, der keinen Salat zubereiten kann.
PS. Vielleicht sollten Regener und Radisch zusammen eine Sendung machen. Das war schon schön, wie uneins, die beiden teilweise waren. Das wäre das nötige Salz in der Suppe (das dieser Sendung doch etwas mangelte).
Im übrigen waren Frau Traudls Bemerkungen zum "Michael Kohlhaas" nicht besonders geistreich. Oder haben Sie Frau Traudls exaltiert vorgetragene symbolische Ausdeutung der Todesumstände von Kohlhaasens Frau verstanden? Das war nichts als geschwätzige Paraphrase.
Oder fast in dem Sinne wie sie fragen: Ist es vielleicht sogar ein Überkompensation, dass sie den Kleist so exaltiert lobt und gleich das Gesamtwerk bestellt (schämt sie sich doch bisschen)? (Das wäre nun schon psychologisierend - leider ist es nun schon länger her dass ich das Video gesehen habe, so dass ich mich nicht mehr genau erinnere: Stimmte sie nicht Frau Radisch zu, was den Roman anbelangte, der sich in diesen Sumpflandschaften abspielte? Da fand ich deren beider Begründung nämlich äußerst schwach: Sie wollten wohl die Klischees anprangern, produzierten meiner Meinung nach aber selbst nur solche. Diese "Schreibschulfhaftigkeit", was ist das für ein Vorwurf, was soll der wirklich bedeuten - letztlich doch nur, dass es irgendwie schlecht ist, aber man selbst nicht einmal genau benennen kann warum? - Als Plastikprosa bezeichnete Frau Radisch das Buch noch und als "künstlich". Gerade diese letzte Kategorie halte ich für die missglückteste. (1) Wer definiert bitte was "natürlich" und was "künstlich" ist? Die "Natur" oder Sprache selbst? Oder doch nur mein Empfinden? (2) Was soll denn bitte Kunst und Literatur anderes sein als "künstlich"? - Dies betrifft jetzt aber mehr Frau Radisch.)
Wie gesagt, ich möchte Frau Traudl gar nicht zu sehr in Schutz nehmen, aber hat XYZ nicht gelesen ist mir für eine Exkommunikation (zunächst) einfach zu dünn (aus dem Gespräch geht ja nicht hervor, ob "nicht gelesen" auch heißt, dass sie ihn nicht in der Literaturgeschichte verorten kann und ihn nicht zumindest aus Sekundärwerken schon kennt).
welche Werke zum literarischen Kanon zählen sollten oder nicht, Kleists Erzählungen gehören für mich aber unstrittig dazu
Da stimme ich zu.
Warum ich mir bei:
aber von einer promovierten Literaturwissenschaftlerin erwarte ich, dass sie - bei aller notwendigen Spezialisierung - die Klassiker ihres Faches aus erster Hand kennt
nicht so sicher bin, ob ich da zustimmen kann, habe ich versucht darzulegen.
Vielleicht ein anderer Versuch: Mein Mitbewohner studiert Literaturwissenschaften und Philosophie. Ich sehe ihn fast nie ohne Buch und er hat mal überschlagen, dass er für jede Hausarbeit (15-30 Seiten) ungefähr 1000 Seiten liest. (Was das Curriculum erfordert ist aber wiederum nur ein Bruchteil dessen, was er aus Interesse liest.) Der hat Kleist gelesen (und war so begeistert, dass ich mich auch immer noch schäme, auf seine Empfehlung noch nicht zurückgekommen zu sein). Aber z.B. von Goethe hat er kaum was gelesen... oder von Alfred Andersch.. oder der Bereich Lyrik ist auch recht weiß, weil's ihn eben nicht so packt. Deswegen käme ich aber doch nicht auf die Idee seinen Bachelor wieder einzufordern.
...Vielleicht reagiere ich auch nur unterschwellig etwas allergisch auf "Kanon" und das Bildungsphilisterhafte, was für mich da mitschwingt - ähnlich der Verranglistung und Vermessung der Literatur durch Betonköpfe wie MRR. Bildung und Literatur sollte eben mehr sein als das. Was, das muss wohl jeder selbst herausfinden. Da Sie Frau Traudls Unkenntnis jedoch nicht dem Lehrplan anlasten, scheint's als wäre hier ihr mangelndes persönliches Interesse/Leidenschaft für Literatur und Bildung angegriffen... und das sehe ich so einfach nicht.
(Tut mir leid, dass ich so hartnäckig und wortreich bleibe - aber ich würde gern erfahren, an welchem Punkt genau wir uneins sind.)